Tag 18 – Aus der kasachischen Steppe zu den deutschen Wurzeln von Rot-Front

Ein Highlight jagt das nächste. Heute tauchen wir in deutsche Geschichte ein: Es geht nach Rot-Front, einer deutschen Siedlung in Kirgisien. Doch der Reihe nach.
Der Morgen beginnt heute spät, erst nach acht kommt die Mannschaft verschlafen auf die Beine. Im Licht der Morgensonne gibt es einen heißen Pott Kaffee und die Reste vom EPA-Paket. Der Hunger ist allerdings nicht allzu groß – die Rindersteaks waren echt heftig groß. Der Blick auf die Berge hinter uns und die Steppe mit der Stadt Merke vor uns ist zu schön, um gleich wieder auf die Bahn zu gehen. Und so kommen wir erst weit nach neun los. Zur 30 Kilometer entfernten Grenze ist es nicht weit und der Übertritt ist der einfachste seit langem. Ein paar Stempel, ein Blick in das Auto, ‚Auf Wiedersehen‘, ‚Herzlich Willkommen‘ – das war’s. Unterwegs sehen wir an diesem Morgen wieder unglaublich viele Schulkinder, die alle in hübsche Schuluniformen gekleidet sind. Die Mädchen immer mit Schleife im Haar, die Jungs gelegentlich sogar im Anzug.
Nun sind wir im vorletzten Land unserer langen Reise: Kirgisien, Kirgistan oder Kirgisistan – wie’s beliebt. Von diesem Land wissen wir eigentlich sehr wenig und doch ist es ein wichtiges Zwischenziel unserer Reise. Hier soll es noch deutsche Siedlungen geben, deren Geschichte ausnehmend interessant ist. Da gleich mehrere Teammitglieder mit einer ausgeprägten Ost-Affinität ausgestattet sind, hatten wir uns in der Vorbereitung entsprechend eingelesen. Und wir haben einen kompetenten Kontaktmann, meinen Arbeitskollege Peter von Lenze, der in einem dieser Dörfer geboren ist und nach wie vor über gute Kontakte verfügt (Vielen Dank, lieber Peter, für deine Hilfe!).
Unser Ziel ist Rot-Front, oder Bergtal, wie dieses deutsche Dorf früher bis in die Stalin-Ära einmal hieß. Dort wollen wir Heinrich ‚Gena‘ Schmidt treffen, mit dem ich schon vor ein paar Tagen telefoniert habe. Heinrich soll uns vor Ort behilflich sein, weil wir gern mit deutsch-stämmigen Bewohnern in’s Gespräch kommen und wenn es geht auch in der Gegend zelten wollen.

Als wir am Nachmittag eintreffen ist zunächst am Treffpunkt – einem Gästehaus, das hier verwunderlicherweise von Kanadiern betrieben wird – nichts zu sehen. Auch die Kanadier sind nicht zu sehen und überhaupt auch sonst niemand. Erst nach einer Weile bekommen wir die Nachricht, dass wir zu Jakob gehen sollten, der uns sicher ein paar Geschichten erzählen könne. Und so suchen wir an der Hauptstrasse die Hausnummer neun – und ein wunderbarer, beeindruckender Nachmittag nimmt seinen Lauf. Wir treffen Jakob und seine Frau Marta, beide im Rentenalter, beim Sortieren der gerade gerodeten Kartoffeln. Sie scheinen uns erwartet zu haben. Sie bitten uns in herzlicher Weise zu Tisch und Marta kocht ersteinmal einen Tee für uns. Und tischt Brot, selbstgemachte Marmelade, eigenen Honig, selbstgemachten Käse, Wurst und Obst aus dem Garten auf. Derweil sitzen wir mit Jakob vor dem Haus und das Eis ist in minutenschnelle gebrochen. Wir sitzen um Jakob herum und lauschen wie gebannt seiner Geschichten, die er über die beiden Orte Bergtal und Grünfeld berichtet. Später stellt sich heraus, dass auch die beiden mit ihren sechs Kindern und den Großeltern 1990 nach Deutschland übergesiedelt sind. Nur jetzt, im Rentenalter, verbringen sie ihre Sommerhalbjahre hier, in der zauberhaften Landschaft ihrer Heimat.

Jakob erzählt uns die faszinierende Geschichte der beiden Orte, die vor hunderten von Jahren in Ostfriesland begann. Von dort sind die Vorfahren, die wegen ihres mennonitischen Glaubens in Deutschland verfolgt wurden, wohl im sechzehnten Jahrhundert gen Ostpreußen ausgewandert. Als es dort nach annähenrd zweihundert Jahren nicht mehr genug Land für die wachsende Kopfzahl der Glaubensgemeinschaft gab, sind Teile dieser Siedler auf Einladung von Zarin Katharina weitergezogen und haben die Krim besiedelt. Auch dort war die Siedlungsfläche bald zu klein und wiederum hat sich eine größere Gruppe weiter gen Osten aufgemacht. Kundschafter, die bald zwei Jahre unterwegs waren, hatten eine fruchtbare Fläche in der Gegend von Talas im heutigen Kirgisien ausgemacht. Und so zogen die Urgroßeltern von Marta mit Ochsenkarren die alte Seidenstrasse entlang durch die Wüste bis hierher. Kaum vorstellbar, mit welcher urgewaltigen Motivation sich die Menschen damals auf den beschwerlichen Weg in eine neue Heimat gemacht haben. Es ist eine beeindruckende Geschichte, für deren weitreichende, von Jakob bildreich beschriebene Details hier nicht ausreichend Platz ist.
Marta und Jakob berichten uns auch von ihrer Jugend, der Gründung der beiden Siedlungen in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, von der schweren Feldarbeit, dem Zusammenleben mit den Kirgisen, der Kollektivierung in der Stalinzeit und die Privatisierung nach der Unabhängigkeit, den Investitionen der Chinesen in den letzten Jahren und vieles, vieles mehr.
Zum Ende diese fantastischen Nachmittags kommt Heinrich Schmidt zu uns, um uns zu unserem Nachtlager zu führen. Er hat eine Hütte in den Bergen, 15 Kilometer hügelaufwärts, die er uns gern überläßt.
Eine Weile reden wir noch über die Geschichte und Geschichten und verabschieden uns dann schweren Herzens von Jakob und Marta, diesen beiden beeindruckenden Menschen. Sie bleiben noch bis zum 15. Oktober, dann fliegen sie zurück nach Deutschland. Im nächsten Frühjahr sind sie wieder hier – und wir sollen gern wiederkommen. Ach, wie wäre das schön…
Bevor es zu unserem Nachtlager geht, kaufen wir noch ein paar Lebensmittel ein, denn die Hütte liegt weit abseits von aller Infrastruktur. Den Laden hätten wir ohne Heinrichs Hilfe nie gefunden: Ein Haus, eine weiße Tür, keine Reklame, kein Schild an der Tür.
Mit dem Nötigsten ausgestattet bringt uns Heinrich mit seinem SUV die 15 Kilometer lange rumpelige Bergpiste hinauf. Wir folgen mit unseren Autos und haben Mühe hinterher zu kommen. Irgendwann stehen wir vor einer einladenen, hölzeren Berghütte, recht komfortabel eingerichtet. Wir sind begeistert, das ist genau das richtige für uns. Um uns herum die Berge, die Grillen zirpen, die Luft ist klar. Die Hütte und die kleine Landwirtschaft werden von Petrus, einem Freund von Heinrich, betrieben.
Wir machen es uns gemütlich und genießen auf der offenen Terrasse noch einen kleinen Imbiss und das mitgebrachte Bier. Ein Lagerfeuer lodert vor der Terrasse – es ist einfach nur schön.
Was für ein wundervoller Tag! Gegen Mitternacht ist dieser Blog geschrieben, ein Stück in Buchstaben geronnene Erinnerung an die Begegnung mit tollen Menschen und ihren so wahnsinnig anrührenden Geschichten. Wir haben viel gelernt heute; vor allem wissen wir jetzt, wie blöde der Begriff ‚Russland-Deutsche‘ wirklich ist. Diese Menschen hier und jene, die es nach Jahrhunderten wieder nach Deutschland verschlagen hat, sind Teil von dem, was wirklich unter ‚Deutschland‘ zu verstehen ist. Nur wissen das die meisten gar nicht…

Bonnie&Clyde: Schrauben wieder fest, Reifen gewechselt — alles Bello
Stimmung im Team: Tief beeindruckt von Jakob und Marta und der Geschichte von Bergtal
Kilometer: 380
Wetter: Unten heiß auf dem Berg abends kühl, seit 10 Tagen kein Regen

3 Antworten auf „Tag 18 – Aus der kasachischen Steppe zu den deutschen Wurzeln von Rot-Front“

  1. … ein Stück in Buchstaben geronnene Erinnerung an die Begegnung mit tollen Menschen… Wunderbar! Ich lese Eure Reiseberichte mit großer Begeisterung. Auf die ausführlichen Erzählungen in Bremen freue ich mich schon sehr. Kommt gesund wieder zurück. Viele Grüße aus Bremen von Rudi

  2. hi Christoph, sehr schöne.
    Reisebeschreibungen. Hab leider auf meinenTouren den Abstecher zum Dorf Rotfront nicht geschafft. Da hab ich wohl richtig was verpasst. Euch weiter gute Fahrt.
    Habt Ihr den Durchfall wieder im Griff? Wenn nicht, nicht lange warten. Ihr könnt in den Apotheken das richtige Antibiotikum kaufen.

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